Am Mittwoch, den 21. September 2022, hat der Bundestag über einen gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP mit dem Titel „Das Recht auf Bildung stärken – Grundbildung im globalen Süden als Basis gesellschaftlicher Teilhabe auf- und ausbauen“ beraten.
Mädchen, Kinder mit Behinderungen und geflüchtete Kinder sind besonders von eingeschränktem Zugang zu Bildung betroffen und bedürfen daher besonderer Unterstützung. In ihrer Rede vor dem Plenum am 21. September 2022 verwies Susanne Menge MdB daher auf die Notwendigkeit einer feministischen Entwicklungspolitik:
"Darunter verstehen wir unter anderem eine gendertransformative Ausbildung von Lehrkräften, geschlechtergerechte Lehrpläne und Bildungsmaterialien, adäquate Sanitäreinrichtungen und auch die Bereitstellung von Ressourcen, zum Beispiel für Menstruationshygiene." Denn: "Wer Maßnahmen ergreift, um die eben genannten Veränderungen in Schulen umzusetzen, schafft echte Gleichstellung."
Die vollständige Rede von Susanne Menge kann hier angeschaut werden.
Die Rede im Wortlaut:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Stefinger, ich bin erstaunt, wie wenig Sie diesem Parlament zutrauen. Wir haben den Haushalt noch gar nicht verabschiedet. Wir sitzen hier, damit wir alle gemeinsam für die guten Dinge und die guten Ziele kämpfen, und das werden wir im November entscheiden.
„Let me learn!“, „Lass mich lernen!“, das forderten weltweit Jugendvertreter/-innen und Jugendbotschafter/- innen am Wochenende stellvertretend für ihre Generation beim Bildungsgipfel der Vereinten Nationen in New York. Bildung ist ein Menschenrecht. In der Realität ist sie jedoch ein Privileg. Wir lassen viele Kinder und Jugendliche dieser Welt nicht lernen; dieses in den SDGs und in der Kinderrechtskonvention verankerte Recht bleibt ihnen verwehrt.
Bereits vor der Coronapandemie hatten wir es mit einer Bildungskrise zu tun; denn rund die Hälfte der zehnjährigen Kinder war nicht in der Lage, eine einfache Geschichte zu lesen und sie auch zu verstehen; die meisten davon in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Nach den jüngsten Modellrechnungen von UNICEF und der Weltbank sind es heute zwei Drittel der Zehnjährigen weltweit, die keine einfache Geschichte lesen und verstehen können.
Ja, die Krisen der Welt überschlagen sich aktuell: der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf die Ukraine, die dadurch ausgelöste Hunger- und Energiekrise, die Coronapandemie und die Klimakrise. Aber in der breiten Öffentlichkeit ist kaum die Rede von der aktuellen Bildungskrise in unserer Welt.
In Uganda endete Anfang Januar dieses Jahres nach fast zwei Jahren die längste pandemiebedingte Schulschließung weltweit: 83 Wochen lang wurde fast 95 Prozent der Schüler/-innen in Uganda ihr Recht auf Bildung verwehrt. Nur Eltern der restlichen 5 Prozent konnten den alternativen Distanzunterricht überhaupt finanzieren.
Internationalen Schätzungen zufolge sind 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen, insbesondere Mädchen, nicht mehr in die Schulen zurückgekehrt; viele Mädchen wurden schwanger oder wurden früh zwangsverheiratet. Andere Kinder müssen arbeiten, weil die Eltern den Job verloren haben oder das Schulgeld nicht mehr bezahlen können. Lehrkräfte haben ihren Arbeitsplatz gewechselt, weil sie über einen Zeitraum von zwei Jahren nicht arbeiten konnten.
Diese Entwicklungen alarmieren. Daher bringen wir hier heute gemeinsam mit der SPD und der FDP unseren Antrag zur Grundbildung im Globalen Süden ein.
Denn das Recht auf Bildung darf kein Privileg bleiben! Grundbildung, das heißt beispielsweise, lesen und schreiben zu können und die Grundrechenarten zu beherrschen. Mit einer Grundbildung geben wir Kindern Kulturhandwerkszeug an die Hand; wir legen damit den Grundstein dafür, das eigene Potenzial auszuschöpfen. Grundbildung bereitet den Weg für eine existenzsichernde Ausbildung und Arbeit. Grundbildung bedeutet, zukunftsfähige Perspektiven zu entwickeln; sie hilft, Macht und Herrschaft zu verstehen, Argumente zu finden und Lösungen für schwierige Situationen zu entwickeln. Grundbildung erhöht die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass Grundbildung und die Bildungsinhalte, die wir vermitteln, heute wichtiger denn je sind, wenn wir Demokratiebildung wollen und wenn wir Demokratiebildung weltweit wollen.
Bildung ist ein öffentliches Gut, und Bildungsorte müssen Schutzorte sein. Die Staaten dieser Welt müssen ihrer Verantwortung nachkommen und Bildung für ihre Gesellschaften bestmöglich bereitstellen. Wie aber soll ein Staat wie Ghana zum Beispiel, der 46 Prozent seiner öffentlichen Einnahmen zur Schuldendeckung ausgeben muss, in die Grundbildung seiner Bürger/-innen investieren? Wir brauchen ein kodifiziertes internationales Staateninsolvenzverfahren; darauf arbeiten wir hin, so wie im Koalitionsvertrag festgehalten.
Stattdessen wurde nun beim UN-Bildungsgipfel eine neue Finanzierungsfazilität vorgestellt, die wieder einmal auf Krediten und Schulden fußt – vorangetrieben vom UN-Sonderbeauftragten für globale Bildung, dem ehemaligen britischen Premierminister Gordon Brown. Statt Gordon Brown sollten wir lieber Farida Shaheed aus Pakistan zuhören, der aktuellen UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Bildung. Sie fordert, Partnerländer darin zu stärken und zu unterstützen, mehr Eigenmittel für Grundbildung auszugeben, anstatt ihnen noch mehr Schulden aufzubürden.
Deutschland tut dies beispielsweise über seinen Beitrag zur Globalen Bildungspartnerschaft. In Zusammenarbeit mit den Partnerländern fördert die Globale Bildungspartnerschaft öffentliche Bildungssysteme und den Zugang zu kostenfreier Bildung. Gemessen an Deutschlands Wirtschaftskraft sollten wir somit endlich unseren Beitrag auf mindestens 110 Millionen Euro pro Jahr anheben und uns dafür einsetzen, dass der internationale Finanzierungsbedarf der Globalen Bildungspartnerschaft von allen Geberländern erreicht wird.
Jeder einzelne Euro, meine Damen und Herren, der für Grundbildung ausgegeben wird, ist ein sinnvoll ausgegebener Euro zur Krisenbekämpfung, zur Krisenprävention und zur Friedensbildung.
Zur Stärkung der Grundbildung von Kindern gehören für mich auch Fragen von Gesundheit und reproduktiver Gerechtigkeit. Der Einsatz für Grundbildung ist für uns auch Kernaufgabe feministischer Entwicklungspolitik; darunter verstehen wir unter anderem eine gendertransformative Ausbildung von Lehrkräften, geschlechtergerechte Lehrpläne und Bildungsmaterialien, adäquate Sanitäreinrichtungen und auch die Bereitstellung von Ressourcen, zum Beispiel für Menstruationshygiene. „Gendertransformativ“ ist – das habe ich gerade wahrgenommen – ein sperriger Begriff; wohl wahr. Aber wer Maßnahmen ergreift, um die eben genannten Veränderungen in Schulen umzusetzen, schafft echte Gleichstellung.
Schülerinnen und Schüler werden mithilfe einer gendertransformativen Arbeit erst befähigt, tradierte Geschlechter- und Machtverhältnisse zu verändern. Gendertransformative Arbeit will echte Inklusion.
Angesichts der dramatischen Entwicklung weltweit, dass laut Bertelsmann-Stiftung aktuell Autokratien gegenüber Demokratien dominieren, haben wir eine internationale Aufgabe. Gendertransformative Arbeit ist gesellschaftspolitische Arbeit. Sie ist somit demokratiebildend.
Ich komme auf den Beginn meiner Rede zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir sie lernen! Ich danke für die Unterstützung des Antrages.