Mit dem Titel "Warum geht IHR auf die Straße? Mutige Bürgerin zerlegt Proteste" suggerieren die Macher:innen des YouTube-Videos, es handle sich um eine neutrale Position. Wieso es sich dabei aber um undifferenzierte und rechtspopulistische Inhalte handelt, erklärt Susanne Menge in ihrem Kommentar:
Die Frage, ob Demonstrantinnen „mit den Richtigen und gegen die Richtigen“ demonstrieren, klärt jeder für sich. Wenn ich z. B. neben mir höre und lese, dass Aussagen einer Grundrechtshaltung widersprechen, distanziere ich mich.
Sabines Politikverständnis beschränkt sich auf Politik als Regierung, dabei ist Politik so viel mehr: Zivilgesellschaftliches Engagement, Mitarbeit in einer Partei oder einer Umweltorganisation beispielsweise. „Die Politik“ muss also differenziert betrachtet werden: Wer ist gemeint? Wer steht wofür? Wer ist Opposition? Wer Regierung? Was unterscheidet Regierung und Parlament? Wer macht Politik in einer Gruppe oder Initiative?
Man sollte das unterscheiden können. Sabine sollte es unterscheiden können.
Eine Regierung „arbeitet“ nicht mit Demonstrant:innen zusammen. Aber sehr wohl dürfen Politiker:innen sich an Demonstrationen beteiligen.
Bevor Sabine allerdings weiter ausführt, springt jemand namens Dean ein und beantwortet Sabines Frage mit zig Sachen, die Sabine gar nicht gesagt oder gefragt hat. Da beide sich - es sei denn, Dean ist Hellseher - abgesprochen haben, wird die Zuhörerschaft schon frühzeitig darauf hingewiesen, wie schlimm die Regierung ist und dass die wahren Demokrat:innen doch in der AfD seien. Sabine ist deshalb auch absolut keine, wie Dean es ihr attestiert, „mutige“ und „neutrale“ Bürgerin, sondern eine Rechtspopulistin.
Sabine hätte sich, bevor sie auf die Regierung als Ampel eindrischt, die Mühe machen können, genau hinzugucken, ob diese Regierung in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich nichts geschafft hat. Sie würde auf 170 verabschiedete Gesetze stoßen. Frage: Wer kann von denjenigen, die solche Sabine-Videos schauen, wenigstens zwei nennen? Na?
Ich helfe gerne mit einer kleinen Auswahl nach:
- 80% Erneuerbare bis 2030! Mit der größten Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes letzten Sommer fördern wir den massiven Ausbau von Wind- & Solarkraftanlagen. Das ist nicht nur gut fürs Klima, sondern auch für Verbraucher:innen, denn Strom aus Erneuerbaren ist deutlich günstiger.
- Der Westen steigt bereits 2030 aus der Kohle aus! Im Rheinischen Revier konnten wir den Kohleausstieg 8 Jahre vorziehen! So bleibt mehr Kohle im Boden & mehr Landschaft für Menschen und Umwelt erhalten.
- Seit Mai 2023 ist das 49-Euro-Ticket da! Eine Revolution für den ÖPNV: Erstmals gibt es ein günstiges, bundesweit gültiges Ticket. Millionen Menschen können nun klimafreundlich und bezahlbar mobil sein. Ein echter Gewinn, gerade für Bürger:innen, deren täglicher Arbeitsweg über Ländergrenzen hinweg geht.
- 4 Mrd. Euro für natürlichen Klimaschutz! Die Natur ist unsere wichtigste Verbündete beim Klimaschutz und kann durch Renaturierung von Mooren, Auen und maritimen Räumen riesige Mengen CO2 sparen! Das Investitionsprogramm wird jetzt ausgerollt und ist zugleich ein großer Schritt für Natur- und Artenschutz. Eine gute Investition in Zukunft für uns und unsere Umwelt!
- Mit klugen Strategien gegen die Dürre: Wir haben die nationale Moorschutzstrategie auf den Weg gebracht, damit Moore wieder dazu beitragen können, klimaschädliches CO2 zu binden und Wasser in der Landschaft zu halten. Das beugt auch Dürren vor und kann uns zukünftig vor Wassermangel und Nahrungsmittelknappheit schützen.
- Gemeinsam gegen Wassermangel: Mit der Nationalen Wasserstrategie sorgen wir dafür, dass der nachhaltige Umgang mit Wasser klarer geregelt sind. Wasser wird zukünftig immer knapper und muss auch in Zukunft für alle zugänglich bleiben.
- Ein weltweiter Durchbruch beim Artenschutz! Endlich gibt es ein verbindliches, internationales Abkommen für mehr Artenschutz und Biodiversität! Das konnte die internationale Gemeinschaft bei der UN-Weltnaturkonferenz in Montreal vereinbaren. Es ist ein Meilenstein, nicht nur für die Artenvielfalt, sondern auch für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen!
- Aus für fossile Verbrenner bis 2035: Ab 2035 müssen europaweit alle neu zugelassenen PKW klimafreundlich sein. Der Ausstieg aus dem fossilen Verbrennungsmotor ist ein Meilenstein für den Klimaschutz und bringt die Wende zu klimafreundlichen Antrieben voran. So schaffen wir Investitionssicherheit für Unternehmen, sichern Arbeitsplätze und stärken den Wirtschaftsstandort Deutschland.
- Weniger Dünger – mehr Umweltschutz! Der vom Kabinett beschlossene Entwurf von Cem Özdemir für ein neues Düngegesetz soll die Nitratbelastung unserer Böden und unseres Grundwassers langfristig verringern. Denn gesunde Böden und gutes Trinkwasser sind nicht nur wichtig für Umwelt und Gesundheit, es sind auch die Fundamente für eine starke und zukunftsfeste Landwirtschaft.
- Mehr Schiene wagen: Wir stärken die Bahn mit frischem Geld in Milliardenhöhe und führen bei der LKW-Maut einen CO2-Aufschlag ein. So schaffen wir Anreize für einen klimafreundlichen Straßengüterverkehr und lenken Einnahmen aus der Maut direkt in den Ausbau des Schienennetzes. Das bringt nicht nur den Güterverkehr auf der Schiene voran, sondern macht die Bahn für uns alle attraktiver!
- Für zukunftsfeste Wärme: Der Gebäudesektor ist verantwortlich für über ein Drittel der nationalen CO2-Emissionen. Hier muss und wird sich etwas ändern, um unser Land zukunftsfähig und unabhängig von Öl und Gas und deren Herkunftsländern zu machen. Ab 2024 soll jede neu eingebaute Heizung klimafreundlich werden. Damit der Umstieg für alle möglich ist, werden einkommensabhängig bis zu 70% der Kosten gefördert.
- Wir haben im April 2023 den Atomausstieg umgesetzt! Deutschland steigt damit aus der teuren Hochrisikotechnologie aus, die mit radioaktiven Abfällen zig nachfolgende Generationen belastet. Für die Menschen bleibt sowohl ein niedriger Strompreis als auch die Versorgung gesichert. Und jetzt können wir uns fokussieren auf den Ausbau und die Förderung von sicheren, günstigen und klimafreundlichen Erneuerbare Energien.
- Mit Hitze umgehen lernen: Unsere Sommer werden immer heißer. Mit dem vom Kabinett beschlossenen Klimaanpassungsgesetz von Steffi Lemke sollen sich unsere Kommunen gegen die Hitze zur Wehr setzen. Neue Konzepte beim Bauen und Planen im öffentlichen Raum schaffen kühlere und schattigere Bereiche und so lebenswertere und gesündere Städte.
- Schneller auf die Schiene! Mit dem Gesetz zur Genehmigungsbeschleunigung sollen 312 Schienenprojekte beschleunigt aus- und neugebaut werden. Außerdem hat die Sanierung maroder Brücken oberste Priorität. Sinnvoll, denn der emissionsarme Schienenverkehr ist nicht nur gut fürs Klima, sondern wird auch zukünftig für alle günstiger als fossile Antriebe.
- Fachkräfteeinwanderungsgesetz: Immer mehr Menschen gehen in Rente, immer weniger junge Menschen kommen nach – der demografische Wandel ist für unseren Arbeitsmarkt fatal! Den Mangel bekommen wir alle im Alltag zu spüren, sei es in der Gastronomie oder beim Besuch bei der Arztpraxis. Wir bräuchten rund 400.000 Menschen jedes Jahr zusätzlich auf dem Arbeitsmarkt. Das packen wir jetzt an und haben bessere Bedingungen geschaffen für Fachkräfteeinwanderung, damit wichtige Jobs besetzt werden können und unsere Gesellschaft und der Arbeitsmarkt erhalten bleiben.
- Wahlrechtsreform: Der Deutsche Bundestag hat sich über die Jahre immer mehr aufgebläht, was auf immer größeres Unverständnis der Wähler:innen stoß. Mit der Wahlrechtsreform verhindern wir das Anwachsen des Deutschen Bundestages und stellen sicher, dass das Parlament nicht mehr als 630 Sitze haben wird. Künftig bildet sich die Mehrheit der Stimmen von Wähler:innen in der Mehrheit im Deutschen Bundestag ab. Jede Stimme soll bei der Zusammensetzung des Bundestages möglichst gleich viel wert sein. Unser Gesetzentwurf bevorteilt keine Partei, sondern setzt den Wählerwillen gleichberechtigt in Sitze der Parteien um.
- KulturPass: Corona hat das kulturelle Leben für alle stark eingeschränkt. Viele junge Menschen haben unter den Schließungen und Kontaktbeschränkungen gelitten. Ihnen wollen wir etwas zurückgeben. Dieses Jahr wurde erstmals der KulturPass eingeführt! Junge Menschen, die 2023 ihren 18. Geburtstag feiern, bekommen mit dem KulturPass ein Budget von 200 Euro für kulturelle Angebote: Sie können es z.B. ausgeben für Konzerte, Theateraufführungen, Kino-, Museumsbesuche, Parks oder Bücher, Tonträger, Noten & Musikinstrumente.
- Jungen Menschen ist es nicht egal, wie die Welt von morgen aussieht – sie wollen und sie sollen die Zukunft mitgestalten. Denn sie sind es, die am meisten davon betroffen sind. Mit der Senkung des Wahlalters bei Europawahlen auf 16 Jahre ermöglichen wir jungen Menschen, frühzeitig Verantwortung zu übernehmen und die Gesellschaft mitzugestalten. Wir profitieren alle von einer lebendigen Demokratie, die sich weiterentwickeln muss, um zu bestehen.
- Wir stärken den Whistleblower-Schutz, denn viele große Skandale wären ohne Hinweisgeber:innen nicht ans Tageslicht gekommen. Menschen, die Missstände in dem Unternehmen oder in der Behörde, in der sie arbeiten, aufdecken, wollen andere Menschen schützen. Daher müssen sie nun keine Repressalien mehr fürchten. Sehr wichtig ist, dass solche Hinweise auch anonym eingereicht werden können. Unternehmen und Behörden müssen Meldestellen einrichten, die solche Hinweise auch anonym annehmen und untersuchen.
- Wir haben das Lobbyregister reformiert und gehören damit zum internationalen Spitzenfeld in Sachen Transparenz! Endlich schärfen wir beim Lobbyregister gezielt nach, denn Demokratie braucht Transparenz. So können Bürger:innen alle politischen Entscheidungen nachvollziehen.
- Bürgerrat: 160 geloste Teilnehmer:innen aus ganz Deutschland werden das Thema „Ernährung im Wandel“ beim ersten Bürgerrat beraten und Empfehlungen erarbeiten. So bekommen Bürger:innen die Möglichkeit, aktiv Vorschläge in den Bundestag einzubringen und mitzugestalten.
Wie zuvor gesagt – 170 Gesetze sind es insgesamt. Sie machen das Leben der Menschen angenehmer, sie sorgen für sozialen Ausgleich und für den Schutz unseres Klimas.
Das kann man immer noch alles zu wenig finden, aber es wäre wunderbar, wenn die Sabines und Deans dieser Welt ein bisschen mehr Sachverstand mitbrächten.
Sabine irrt, wenn sie behauptet, dass die Mehrheit in Deutschland AfD wählen würde. Es sind zu viele rechts in diesem Land. Das stimmt, aber im Durchschnitt sind es knapp 80%, die nicht AfD wählen würden.
Sabine irrt ebenfalls, wenn sie aufgrund erfundener Umfragen der 2021 gewählten Regierung die Legitimation zum Regieren abspricht. Jede Regierung wird im Laufe ihrer Regierungsjahre scharf kritisiert. Damit muss man leben und trotzdem weiterhin gut regieren. Das schwierigste Geschäft ist allerdings, diesen und anderen Falschmeldungen so entgegenzutreten, dass Menschen sie endlich ignorieren. Die Sozialen Medien sind einfach zu stark asozial und erreichen eine Masse, die sich nie politisch engagiert hat und jetzt meint, politisch mitreden zu können. Die Strategie ist, Ängste und Verunsicherung zu schüren und damit gezielt Menschen zu beeinflussen, rechts zu wählen. Meine Güte – das hatten wir doch alles schon mal.
Sabine und Dean sprechen den Demonstrant:innen ab, zu wissen, wofür sie auf die Straße gehen. Die Menschen, die gegen Rechts demonstrieren, demonstrieren
- nicht gegen die Opposition, die - by the way - nicht die AfD allein ist, sondern, ausgehend vom Bundestag auch die CDU/CSU, die Linke und die neue Gruppe SWG. Es gibt außerdem, denn wir sind ein föderaler Staat, 16 Landesparlamente mit unterschiedlichen Regierungskonstellationen und Oppositionsfraktionen. Das scheint besagte Sabine nicht zu wissen und zu unterscheiden.
- für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Unser Grundgesetz ist die Verfassung, die sich diese Demokratie gegeben hat, und diese Verfassung beruht auf grundlegenden Rechten: Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht, den Menschenrechten, usw. Kann jede und jeder im Grundgesetz nachlesen. Wenn man nicht nur solche Videos schaut und sich von diesen „informieren“ lässt.
- für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und da ist es durchaus zulässig, die Forderung zu ergeben, eine AfD, die unsere Demokratie und unsere Gesellschaft zerstören will, zu verbieten. Es sind Neofaschistinnen und Neofaschisten, die einen perfiden Plan zur Vertreibung derer ausgearbeitet haben, die im Sinne der AfD nicht in unsere Gesellschaft gehören. Vielleicht Txai und Jigal? Vielleicht Urte, weil sie mit einem Brasilianer verheiratet war? Vielleicht mich, weil ich bei den verhassten Grünen bin?
Die Nazis haben in der Wannseekonferenz 1943 (https://www.zdf.de/filme/die-wannseekonferenz) die Vertreibung und Vernichtung der Juden beschlossen. Staatlich verordneter Massenmord.
Es ist absolut legitim, eine Partei, die solchen Terror plant, die verfassungsfeindlich ist und deren Akteur:innen als Faschisten bezeichnet werden dürfen, verbieten zu wollen.
Im Zusammenhang mit Parteiverboten (wichtig: nicht Oppositionsverbote!) wurden in der Vergangenheit in Deutschland zwei Parteien durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens für verfassungswidrig erklärt:
- Sozialistische Reichspartei (SRP) im Jahr 1952
- Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956
Parteien sind verfassungswidrig, wenn sie nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden.
Sabines Unwissenheit und fehlende Differenzierung gipfelt in Äußerungen wie dieser, dass Regierungen Waffen, Napalmbomben, Uranmunition, Entlaubungsmittel in andere Länder lieferten, Landschaften und Häuser zerstörten und, das habe Sabine so gehört, Kinder umbrächten. Mal eben so: Alle Regierungen tun das. Punkt. Sabine weiß das.
Es gibt auf dieser Welt, Sabine und Dean, weltweite Abkommen für Menschenrechte und Klimaschutz (UN-Charta, 17 Nachhaltigkeitsziele, Klimaschutzabkommen von Paris usw.), es gibt Verteidigungsbündnisse wie die NATO (die Betonung liegt auf Verteidigung, nicht Angriff), in die wir eingebunden sind. Entscheidungen treffen in Demokratien gewählte Vertreter:innen des Volkes, also das Parlament (siehe oben, besser unterscheiden).
Waffenlieferungen unterliegen strengen Regeln. Deutschland und andere Länder liefern weder Napalm noch Uranmunition (Atomwaffensperrvertrag). Wir greifen auch keine Länder an und zerstören Häuser und bringen Kinder um.
Kriege sind ein Katastrophe. Wohl wahr. Aber wir, Europa und zig Vertragsbündnissen sei Dank, leben seit 1945 in Europa friedlich zusammen.
Der einzige, der diese friedliche und friedliebende Menschen brutal angegriffen hat, war und ist Putin mit seinem Regime.
Schauen wir einfach nicht solche Videos, wenn uns Politik schon zu schwere Kost ist. Und verbreiten wir solche Sachen nicht, wenn wir an Politik sowieso kein Interesse haben, sondern einfach gut leben wollen.
Es sind die Sabines, Deans und andere Rechte, die mit Fehlinformationen diese Gesellschaft verängstigen und Hass schüren. Sie sind es, die unsere Demokratie und – seien wir ehrlich – ein gutes Miteinander schlecht reden. Es geht uns gut. Vergessen wir das bitte nicht. Zerstören können wir es nur selbst.
Wer dieses „Sabine-Dean-Video“ verbreitet, sollte auch die Courage haben, diese Klarstellungen zu verbreiten.
Susanne Menge