In der aktuellen Stunde "Den zunehmenden Medikamentenmangel beseitigen – Ursachen bekämpfen, Gefahren abwenden und kurzfristige Abhilfe schaffen" am 15. Juni 2023 zeigte Dr. Paula Piechotta MdB (Bündnis 90/Die Grünen) (externer Link) deutlich auf, wie das Strukturproblem in der Medikamentenversorgung über die letzten 10 Jahre aufgebaut wurde. Umso wichtiger ist es, dass wir die Komplexität des Themas erfassen und angemessene Lösungen suchen.
Die ganze Rede von Dr. Paula Piechotta finden Sie hier (externer Link).
Wir beraten ja in diesen Tagen gerade das Gesetz zur Arzneimittellieferengpassprävention. In dieser Anhörung gab es eine Frage von der Union an Professor Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der ist nicht dafür bekannt, Ampelvertreter zu sein. Er hat vieles geantwortet, unter anderem – ich zitiere –:
"Ich darf bei dieser Gelegenheit … sagen, dass ich mich sehr freue, dass, nachdem 2011 erstmals das Thema Lieferengpässe … weltweit diskutiert wurde, wir im Jahr 2023 uns Gedanken machen, wie wir diese Lieferengpässe in Deutschland … verhindern können. Sagen wir mal: Die Leitung war relativ langsam."
Da unterschlägt er natürlich, dass seit 2011 durchaus einiges passiert ist; aber schauen wir uns doch mal an, was passiert ist. 2010 waren wir in Deutschland übrigens in einer Situation, wo die Importe aus China, was Arzneimittel betrifft, noch quasi inexistent waren.
2011: Lieferengpässe werden erstmals weltweit debattiert. Im Bundestag: nichts.
2012 im Bundestag: nichts.
2013: ein Antrag der SPD, der übrigens schon viele Punkte enthält, die wir hoffentlich in den nächsten Wochen beschließen.
[...]
Eingeführt wird aber nur ein freiwilliges Register für Lieferengpässe, was über Jahre unbrauchbar bleibt, weil die Meldungen nur freiwillig sind und das in der Praxis überhaupt nicht nutzbar ist.
2014: Die Bundesregierung lässt ausrichten: Lieferengpässe sind meist nicht von langer Dauer.
2015: Kleine Anfrage der Grünen; die Regierung scheint ein Gesetz zu planen. Es kommt aber dann kein Gesetz, es kommt der Pharmadialog.
2016: Der Pharmadialog beschließt den Jour fixe. Die Industrie verspricht, ihre Prozesse zu optimieren. Das BfArM fordert schon da verpflichtende Lieferungsmeldungen bei Lieferengpässen. [...]
2017: nichts.
2018: Der Jour fixe gilt als Erfolg.
2019: Es kommt endlich ein Gesetzespaket, wenn auch ein kleines. Deswegen stimmt es auch nicht, dass gar nichts passiert sei seit 2011. [...] Da wird unter anderem endlich der Beirat beim BfArM für Lieferengpässe eingerichtet.
2020, 2021: Sie kennen das: die Pandemie. Plötzlich werden Lieferengpässe bei Medikamenten überall Thema.
2022: Die postpandemische Erkältungswelle führt dazu, dass wir tatsächlich Nachfragespitzen ungekannten Ausmaßes haben. [...]
2023: Haben wir endlich den Gesetzentwurf. 2011 bis 2023! [...]
Und nein, es stimmt nicht, dass in dieser Zeit nichts passiert ist; aber ich glaube, es ist sehr deutlich, dass zu wenig passiert ist und dass das zu spät passiert ist. [...]
Wenn wir ehrlich nicht wollen, was eingetreten ist, nämlich dass an der Stelle in dieser Zeit der Import aus China von einem quasi inexistenten Niveau in den Milliardenbereich geschnellt ist, dann müssen wir auch gemeinsam ehrlich zugeben, dass es, wenn wir in den nächsten Jahren wieder merken, dass das Problem größer wird, obwohl wir was gemacht haben, nicht reicht, nur wenig nachzusteuern. Das bedeutet auch, dass wir deutlich machen müssen, dass, wenn wir hier früher interveniert hätten, das Problem nicht so groß geworden und es auch leichter zu lösen wäre. Das ist übrigens eine weitere Parallele zur Debatte um die Klimakrise heute Morgen hier im Plenum. [...]
Ich möchte an der Stelle, weil Sie ja auch die Apothekenproteste gestern angesprochen haben, noch mal kurz dazu ein Wort verlieren. Mir haben einzelne Apothekerinnen und Apotheker geschrieben, die von Kollegen unter Druck gesetzt wurden. Es ist ja durchaus so, dass die Einnahmesituation in den Apotheken in Deutschland sehr, sehr unterschiedlich ist. Es sind viele sehr lukrativ, es kämpfen viele ums Überleben, und in der Realität gibt es auch dazwischen sehr viele Apotheken.
Da schicken diese Apotheker mir auch Nachrichten, die sie von Kollegen bekommen, worin ihnen angedroht wird, dass, wenn sie öffentlich Kritik üben, dann Schluss sein muss mit Kollegialität und dass der, der den anderen Apothekern in den Rücken fällt, mit Konsequenzen rechnen muss. Das müsse man mal vorher sagen der Fairness halber.
Ich kenne solche Nachrichten. Als politische Personen im Bundestag kennen wir sie wahrscheinlich alle. Aber ich glaube, wenn das jetzt schon zwischen den Leistungserbringern in diesem Land anfängt, dann sind wir im Gesundheitswesen an einem Punkt, wo wir wirklich gegensteuern müssen.
Vielen Dank.
(Quelle: Plenarprotokoll 20/109, externer Link)